Alice Munro: Zu viel Glück

(Diese Rezension ist zum ersten Mal im LitMag am 28. September 2011 erschienen)

Ich wurde erwachsen und alt

Alice Munro, gerade 80 Jahre alt geworden, ist noch kürzer in ihren Erzählungen geworden. Dabei war die kanadische Schriftstellerin schon immer kurz; eine typische Erzählung in „Tricks“ oder in „Himmel und Hölle“ zählt zwischen 40 und 60 Seiten. In „Zu viel Glück“ sind es jetzt oft nur noch 30 Seiten. Aber ihre Kunst ist es, in diese 30 Seiten ganze Lebensgeschichten zu packen. Von Christiane Geldmacher.

Ihre Beobachtungsgabe lässt die Leser feinste charakterliche Nuancen in detailliert gezeichneten psychologischen Studien entdecken. Es sind immer die großen,  existentiellen Themen, die sie beschäftigen. Munro erzählt von Liebe und Hass, von Glück und Grauen, ohne dass sie jemals in Kitsch oder Pathos verfiele. Sie schildert die Gleichgültigkeit und wie sie uns das Leben zerstören und uns jeden Tag die Luft anhalten lässt.

Meistens beginnen die Storys mit einer Alltagssituation. In „Tieflöcher“ packt Sally  gefüllte Eier für ein Picknick ein, die später niemand essen wird (ihr Sohn wird bei diesem Picknick abstürzen, nie mehr richtig laufen können, erwachsen werden, ergrauen, den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen und sich trotz bestem „Hintergrund“ seinen Unterhalt auf der Straße zusammenbetteln). Roy, ein Polsterer und Restaurator, bekommt in „Holz“ mehr Aufträge, als er bewältigen kann und stellt trotzdem niemanden ein, weil er ein schrulliger Einzelgänger ist (er wird allein in den Wald ziehen, stürzen und auf allen Vieren über Stock und Stein kilometerweit zu seinem Lieferwagen zurückkriechen). Doree, ein Zimmermädchen, wird drei verschiedene Busse nehmen, um in der Klinik anzulangen, in der ihr psychisch kranker Mann untergebracht ist, der in einem Anfall ihre drei gemeinsamen Kinder umgebracht hat).

Keine Kompromisse

Munros Erzähltechnik besteht darin, ihre Geschichten in der Mitte anzufangen und sie dann vor- und zurückzuerzählen. Das macht sie diskursiv,  intelligent, überraschend. Sie springt zwischen den einzelnen Zeiten hin und her und löst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Erleben und der Erinnerung des Menschen auf. So kann es passieren, dass die Lebenden mit den Toten sprechen. Ein erzählerisches „Geht nicht“ gibt es bei Munro nicht. Wichtig ist es,  den eigenen Ton zu finden, den unverwechselbaren Stil, eine erzählerische Idee. Sie  hat eine fundierte Kenntnis von Komposition. Ihr Ton ist souverän, ruhig, auf den ersten Blick unspektakulär, auf den zweiten jedoch hochdiffizil. Sie berichtet kontrastreich, mit Leichtigkeit, voller Witz, Präzision, voller Komplexität und Gedankenreichtum.

Dabei geheimnisst sie nie herum oder versucht, sich für den Leser interessant zu machen. Sie macht nie Kompromisse: Wer sie nicht begreift, soll ihre Bücher zur Seite legen. Und sie macht uns nie was vor. Das Glück ist nicht dauerhaft. Kaum haben die Menschen in ihren Geschichten sich gefunden, verlieren sie sich schon wieder. Oder sie behalten sich, kriegen Kinder, ziehen sie groß,  langweilen sich und sterben. Und einer stirbt immer früher als der andere und lässt den anderen allein.

Neu in diesem Erzählungsband sind ein paar Seitenhiebe, die wir so sonst nicht von Munro kennen, die aber unterhaltsam sind. Es ist ihr unbegreiflich, wie man sich als Leser nur für eine Unterschrift in langen Buchhandlungs-Schlangen anstellen kann. An anderer Stelle bemerkt sie spitz, dass in der Literatur nur Romane, aber nicht Erzählungen als Schwergewichte gelten. Munro selbst hat nur einen „kurzen Roman“ (90 Seiten; Die Liebe einer Frau – The Love of a Good Woman, 1998) geschrieben und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ihr nie der ganz große Durchbruch gelungen ist, obwohl sie eine der herausragenden Stilisten der Gegenwart ist. Die Erzählung ist ihre Wahl: Sie bleibt immer bei der kleinen Form. Sie konzentriert sich auf das Wesentliche. Das, was sie selbst an einem Leben interessiert.

Der Vorteil eines Erzählungsbandes mit zehn Geschichten: Die Leser können einen ganzen Munro mit all seiner Vielschichtigkeit in komfortablen eineinhalb Stunden lesen. Diese eineinhalb Stunden werden nie verschwendete Zeit sein. Sie werden nachwirken.

Christiane Geldmacher

Alice Munro: Zu viel Glück (Too much happiness, 2009). Erzählungen. Deutsch von Heidi Zerning. Frankfurt am Main: Fischer Verlage, 2011. 366 Seiten. 19,95 Euro.

This entry was posted in Rezensionen and tagged . Bookmark the permalink.

Comments are closed.