Vielleicht schaffe ich den Rest allein. Kurzgeschichten von Alice Munro

Alice Munros Geschichten sind unzweifelhaft, einfach, wahr. Eine von ihnen – es ist eine ältere, bereits 1982 erschienen – dreht sich um zwei Frauen im Altersheim in einer Kleinstadt in Kanada: Mrs. Cross und Mrs. Kidd. Sie kennen sich aus dem Kindergarten, das ist 80 Jahre her. In der Zwischenzeit haben sie ihre Leben gelebt, Kinder bekommen und ihre Männer verloren. Aber noch zählen sie zur A-Klasse im Altersheim: Zwar können sie nicht mehr laufen, aber immerhin noch Rollstuhl fahren, was sie da in die Pole-Position bringt.

Mrs. Cross und Mrs. Kidd besuchen Freunde und Familie in anderen Stockwerken und spielen mit ihnen Scrabble. Eines Tages gibt es einen Neuzugang, einen 59-jährigen Mann, wahrscheinlich Journalist, so genau weiß man das nicht. Aber interessant. Er hatte einen schweren Schlaganfall – „so jung!“ – und ist halbseitig gelähmt. Noch ist er entsetzt über seinen eigenen Zustand und fängt dauernd zu weinen an. Er kann kaum mehr sprechen und nicht mehr schreiben.

Mrs Cross nimmt sich seiner an. Sie führt Unterhaltungen mit ihm – eine Herausforderung – und entwickelt ein Ja-und-Nein-Frage-und Antwortspiel, das leidlich funktioniert. Jack hat Liebeskummer, meint sie aus seinem Gestammel herauszufinden. Jetzt ist nur die Frage, wegen wem?

„Also Sie haben nie geheiratet? Nie?“
Nie.
„Hatten Sie eine Freundin?“
Ja.
„Wirklich? Wirklich? Ist das schon lang her? Vor langer Zeit oder erst kürzlich?“
Ja.
„Vor langer Zeit oder kürzlich. Sowohl als auch. Vor langer Zeit und kürzlich. Verschiedene Freundinnen. Dieselbe? Dieselbe.“

Es klappt also ganz gut mit der Kommunikation zwischen den beiden und eines Tages nimmt Mrs Cross Jack zum Scrabble mit. Es wird ein Desaster. Jack, mit seiner Unfähigkeit konfrontiert, bekommt einen Wutanfall und fegt zum Entsetzen der Damen das Spiel vom Tisch. Er wird hastig von einer Schwester in seinem Rollstuhl weggebracht, aber Mrs. Cross und Mrs Kidd finden nicht ins Spiel zurück.

Sie beschließen, auf ihre Zimmer zurückzukehren. Jetzt ist aber nur noch ein Rollstuhl für die beiden da (im anderen sitzt Jack). Mutig machen sich die beiden alten Damen auf den Weg. Mrs. Kidd schiebt Mrs Cross, aber die Kräfte sind nicht unendlich. Sie gerät außer Atem und nachdem Mrs. Kidd Mrs Cross eine Rampe hochgewuchtet hat, geht nichts mehr vor und zurück.
Dabei ist das Zimmer von Mrs. Cross nur noch drei Türen entfernt.
„“Vielleicht schaffe ich den Rest allein“, überlegt Mrs. Cross, der die Kurzatmigkeit von Mrs. Kidd nicht verborgen geblieben ist.
Die Idee ist illusorisch, aber Mrs Kidd hat eine Idee.

Und hier ist das Ende dieser wunderbaren Geschichte um zwei Fünfundachtzigjährige in einem kanadischen Altersheim:

„Ich werde jetzt Folgendes tun“, erklärte Mrs Kidd mit Nachdruck, machte eine Pause, um ihre Atemnot zu verbergen, „ich gebe dir einen Stoß, Ich kann dir einen Stoß geben, der dich vor deine Zimmertür bringt.“
„Wirklich?“, fragte Mrs. Cross zweifelnd.
„Sicher. Dann kannst du selbst ins Zimmer fahren und dich aufs Bett setzen. Lass dir Zeit, um dich richtig hinzulegen. Dann klingelst du nach dem Mädchen und sagst ihr, sie soll mir den Rollstuhl zurückbringen.“
„Werde ich auch nirgends anstoßen?“
„Du wirst schon sehen.“
Damit versetzte Mrs Kidd dem Rollstuhl einen genau berechneten, wohldosierten Stoß. Er rollte sanft vorwärts und blieb exakt an der richtigen Stelle vor der Zimmertür stehen, wie sie es vorausgesagt hatte. Mrs Cross hob für die kurze Fahrt schnell Beine und Hände und ließ sie jetzt wieder sinken. Mit einem zufriedenen, anerkennenden Nicken wendete sie den Rollstuhl und glitt sicher in ihr Zimmer.
Kaum war Mrs Cross verschwunden, sank Mrs Kidd zu Boden, lehnte sich an die Wand und streckte die Beine vorsichtig auf dem kühlen Linoleum aus. Sie betete darum, dass niemand vorbeikam, der Lärm schlug, bis sie wieder genug Kraft hatte, um sich auf den Rückweg zu machen.

Wenn ihr mal das Gefühl habt, ein Tag zerrinnt euch unter den Fingern und ihr habt noch nichts von ihm gehabt: Lest eine Geschichte von Alice Munro! Dann war es kein verlorener Tag.“

Alice Munro, Die Jupitermonde, hier: Mrs. Cross und Mrs. Kidd, Berliner Taschenbuch Verlag, z.B. >>>hier

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