Jorge Semprun, Was für ein schöner Sonntag

„Es kommt zuweilen vor, dass ich sehr empfänglich für Kontraste bin. Dass ich davon zutiefst angerührt werde, ich meine damit, dass sie meine Sinne verwirren. Das sie mich treffen, meine ich. Im Laufe dieser Jahre ist das oft passiert. Zum Beispiel der Kontrast zwischen irgendeinem heftigen Glück, sei es auch flüchtig und vergänglich, doch immerhin herzergreifend, und der plötzlich wiedergekehrten Erinnerung – wegen dieses Glücks? – an einen Augenblick im Lager. An einen Augenblick der Qual, inmitten der geräuschvollen, zappelnden, dichtgedrängten, feindlichen Menge nachts im Schlafsaal. An einen Augenblick der Wahnvorstellung angesichts der so banal schönen Landschaft der Thüringer Ebene.“

Semprun liebte Goethe. er saß im Lager und fragte sich, was Goethe zu Eckermann über das Lager gesagt hätte. Er beschreibt, wie die SS – nicht religiös motiviert – am Sonntag nachmittag besseres Essen austeilte.


Die deutschen Häftlinge (politisch, Kommunisten) hatten Vorräte gebunkert und gut zu essen. Brot, Butter, Fleisch. Sie gaben nichts ab, sie hatten schon harte Jahre in Buchenwald hinter sich, acht Stunden Appell stehen. Als Semprun nach Buchenwald kam, hatte die Führung nachgelassen, der Appell dauerte nur noch drei stunden, dann ging es raus in die Fabriken von Weimar. Die deutschen Häftlinge waren die inoffizielle Lagerleitung, sie verteilten die Leute, schickten sie in die Außenlager, erhielten von der kommunistischen Untergrundorganisation die Empfehlungen, wer in Buchenwald bleiben sollte (und damit gerettet werden konnte) und wer nicht.

Als ehemaliger Stalinist schreibt Semprun:

„Kann man mit wenigen Worten die gemeinsame Essenz der Terrorsysteme der Nazis und der Sowjets formulieren? Durch Zwangsarbeit arbeiten zu lassen und zu bessern, umzuerziehen, findet man darin nich die tiefe Idendität zwischen den beiden Systemen, was auch immer die historisch oder sogar geografisch bedingten Unterschiede sein mögen? 1934, als das Innenministerium Hitlers die Normen der administrativen Internierung in den Konzentrationslagern aufstellte, funktionierte das System in der UDSSR schon seit fünfzehn Jahren. Auf der 8. Sitzung des panrussischen exekutiven Znetralkomitees im Februar 1919 hat Dscherschinksi erklärt: „Ich schlage vor, die Konzentrationslager zu beizubehalten, um die Arbeit der Häfltinge, der Individuen ohne regelmäßige Beschäftigung, zu nutzen, also all derjenigen, die nicht ohne einen gewissen Zwang arbeiten können …“ oh welch bewundernswerer Ausdruck! Wer hat nicht mehr oder weniger unter einem gewissen Zwang gearbeitet!“

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4 Responses to Jorge Semprun, Was für ein schöner Sonntag

  1. Kle says:

    mich hat fasziniert, wie Semprum seine eigene Person gegen das Gewicht des Themas stemmt. Ich hatte den Eindruck, er versuchte unbedingt seine damaligen Wahrnehmungen&Reflexe – den O-Ton – zu retten, auch wenn sie in der Rückschau und angesichts der Gräuel banal oder für Außenstehende schwer verständlich sind. Deshalb wirkt „Was für ein schöner Sonntag“ gleichzeitig so intim, politisch, poetisch und grausam. Der Häftling beschreibt sich in seinem Leiden, in seinen Eigenschaften und kleinen Gewohnheiten derart plastisch, dass sein Status als Todeskandidat nur wie ein Attribut von vielen erscheint; man könnte zynisch sagen, nur als eine Phase seines Lebens. Gerade dadurch wird Buchenwald deutlich – es ist kein unfassbarer Albtraum, sondern in die Normalität verflochten. Das Buch hat einiges mit Curzio Malapartes „Kaputt“ gemein, der die schönsten poetischen Formen nutzt, damit wir die Grausamkeiten auch schön nachfühlen können.

  2. christiane says:

    Absolut richtig. Und wenn man dann mal in Weimar ist und sieht diesen, Verzeihung „mindfuck“ der deutschen Geschichte … Weimar mit der Klassik, mit der Musik, mit dem Bauhaus, der Weimarer Republik, der Nazizeit, Buchenwald und der DDR-Zeit … dann ist dieses „Normale“ und gleichzeitig brutal Groteske noch evidenter.
    Sempruns Buch ist kompromisslos intellektuell, das ist das Beeindruckende. Unkorrumpierbar. Er denkt in alle Richtungen.
    *googelt „Kaputt“

  3. Kle says:

    …auf Semprun stieß ich kurz nach dem Abitur mit all den Klassikern im Kopf. „Was für ein schöner Sonntag“ machte ihnen regelrecht Beine. Vorher erschien mir die Bedeutung von Goethe&Co statisch wie ihre Denkmäler. Durch Semprun wurde mir schlagartig klar, dass ihre Werke keinen Wert „an sich“ haben, sondern dieser davon abhängt, was die Ereignisse aus ihnen machen, wie sie sich in der Geschichte behaupten und gelesen werden können. Als ich 20 Jahre später Weimar besuchte, habe ich mehr an Semprun als an Goethe gedacht.

  4. christiane says:

    Ich auch. Aber man sieht Buchenwald auch, bevor man Weimar sieht, zumindestens, wenn man aus der Richtung Eisenach kommt.
    Aber ich liebe Weimar, ein wunderbares Städtchen. Und ich habe mir sagen lassen, die Leute dort wären großartig, ganz interessiert, sehr offen …

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